Was ist Hochbegabung?

Bei dem Thema Hochbegabung gibt es verschiedene Begrifflichkeiten, für die letztendlich keine klare Definition vorliegt. Die Begriffe Talent, Begabung, Intelligenz und Hochbegabung werden manchmal synonym und manchmal abgrenzend verwendet.
In meiner Arbeit mit hochbegabten Kindern und Jugendlichen verwende ich hauptsächlich den Begriff Hochbegabung und verweise auf die gängige Literatur, die eine Hochbegabung durch einen IQ-Wert von 130 Punkten oder mehr definiert. Gerne greife ich bei jüngeren Kindern auch auf altersgemäße Wörter wie „blitzgescheit“, „scharfsinnig“, „klug“, „sehr aufgeweckt“ oder „schlau“ zurück.

Definition und Bereiche der Hochbegabung

Die intellektuelle Hochbegabung wird mithilfe verschiedener psychologischer Intelligenztests ermittelt. Hochbegabung wird definiert als ein Vorhandensein besonderer Fähigkeiten, die im Vergleich zu Gleichaltrigen außerhalb der Norm liegen. Nur 2-3% bezogen auf die jeweilige Altersgruppe erreichen in identischen Testsituationen dieses Leistungsergebnis.

Zur Orientierung: der Durchschnittswert beim IQ-Test liegt bei 100 Punkten. Ein Wert von 115 Punkten kennzeichnet einen überdurchschnittlicher IQ; bei 122 Punkten handelt es sich um einen weit überdurchschnittlichen Wert. Ab 130 Punkten sprechen wir von Hochbegabung und ab 145 Punkten von einer Höchstbegabung.

Die Begabungsbereiche

Bei einer Testung werden die verschiedenen Bereiche geprüft und am Ende aus den Ergebnissen der Untertest ein Gesamt-IQ-Wert ermittelt. Unterschieden wir zwischen:

  • Sprachlich
  • Logisch-mathematisch
  • Mathematisch
  • Räumlich-kreativ
  • Musisch-künstlerisch

Zusätzlich kommen die Fähigkeiten des Arbeitsgedächtnisses und die Verarbeitungsgeschwindigkeit als stützende Faktoren hinzu. Wichtig sind auch die beiden Begriffe fluide und kristalline Intelligenz. Die fluide Intelligenz bezieht sich auf Fähigkeiten wie Mustererkennung, abstraktes Denken und die Fertigkeit sich schnell an neue Situationen anzupassen. Unter kristalline Intelligenz verstehen wir die Fähigkeit erworbenes Wissen und erworbenen Kompetenzen anzuwenden. Dabei ist der Aspekt der kulturellen Prägung nicht außer Acht zu lassen.

Die hochbegabten Kinder und Jugendlichen verfügen in einem oder mehreren Bereichen über stark ausgeprägte Fähigkeiten. Es kann auch verkommen, dass ein Kind lediglich in einem bestimmten Bereich hochbegabt ist, während andere einen IQ-Wert im Normbereich aufweisen oder gar eine Lese-Rechtschreibschwäche vorhanden ist.

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Erkennung der Hochbegabung

Bevor es zu einer Testung kommt, müssen andere Personen, wie Eltern, Verwandte, Lehrpersonal oder Erzieherinnen und Erzieher erst mal auf die Idee kommen, dass etwas grundlegend anders ist. Im Kindergartenalter wird in diesem Zusammenhang oft von einem Entwicklungsvorsprung gesprochen. Dieser kann sich im sprachlichen Bereich durch einen umfangreicheren Wortschatz oder einer ausgezeichneten Grammatik zeigen, aber auch in einem großen Wissen über die Abläufe und Strukturen des Kita-Alltags.

Immer wieder habe ich mit Kindern zu tun, die sich das Lesen frühzeitig angeeignet hatten und davon berichten, dass sie anderen Kindern bereits in der Kita vorgelesen haben. Meistens wurde das vom pädagogischen Fachpersonal nicht wahrgenommen oder mit den Eltern besprochen. Es gibt aber auch sehr scheue und hochsensible Kinder, die trotz der vorhandenen Fähigkeiten, sich lieber verstecken, ungern an Spielen teilnehmen und sich zuhause über die Lautstärke in der Kita beschweren. In solchen Fällen wird der Entwicklungsvorsprung meist übersehen. Oft werden Eltern aufgefordert, die mangelnde Anpassungsfähigkeit ihrer Kinder kritisch zu betrachten.

Die Kinder mit einem Entwicklungsvorsprung orientieren sich gerne an den Älteren der Gruppe. Wenn diese dann die Kita verlassen, um in die Vorschule oder Grundschule zu wechseln, ist der Verlust für die zurückgebliebenen Kinder ein großer Kummer. Leider hat das Thema hochbegabte Kinder bis heute noch keinen Eingang in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erzieher gefunden.

Merkmale hochbegabter Kinder

Kommen wir zu den Hinweisen auf eine möglich Hochbegabung von jüngeren Kindern zu sprechen. Ellen Winner (2004) nennt einige Merkmale bei Kindern, die für eine vorliegende Hochbegabung sprechen:

  • Frühreife: Die Kinder entwickeln früh Fähigkeiten, die für ihre Altersgruppe untypisch sind.
  • Eigene Lernstrategien: Sie folgen ihrem eigenen Drehbuch, entwickeln eigene Lernstrategien und Sie sind schneller als andere Kinder, entwickelt kreative eigene Lernstrategien und gelten oft als eigensinnig.
  • Wütende Wissbegierde: Wenn die hochbegabten Kinder ihre Domäne finden, sind sie oft von einem obsessiven Interesse angetrieben.

Weitere Hinweise auf eine Hochbegabung sind eine frühzeitige sprachliche Kompetenz, ein umfassendes Detailwissen, eine starke Vertiefung in ihr Interessengebiet, schnelles Lerntempo, vernetztes Denken, schnelles Erfassen von Zusammenhängen oder Grundmustern, vorauseilendes, manchmal sprunghaftes Denken. Auf der anderen Seite Langeweile an Routineaufgaben bis hin zur Verweigerung, fehlendes Interesse an Beschäftigungen gleichaltriger Kinder, kritisches Hinterfragen von Autoritäten, Wahl von älteren Freunden und störendes Verhalten in der Schule.

Diese Merkmale sind nicht abschließend, bieten aber einen ersten Einblick. Bei vielen Kindern wird die Hochbegabung erst entdeckt, wenn es in der Grundschule zu wesentlichen Problemen kommt. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen:

Melanie kommt nach dem ersten Schultag nach Hause und sagt, dass sie erst wieder hingehen wird, wenn die anderen Kinder auch lesen können. Paul rechnet schon gerne vor Beginn seiner Einschulung und muss sich damit abfinden, dass er nur Aufgaben im 20er-Bereich bekommt. Er erledigt die in im Nu und beginnt dann, den Unterricht zu stören. Pauls Eltern werden in die Schule gebeten, wo die Lehrerin den Verdacht äußert, dass eine ADHS-Symptomatik vorliegt.

Diagnostik der Hochbegabung

Klarheit, ob eine Hochbegabung vorliegt, gibt es erst nach einer umfassenden Diagnostik. Es gibt viele Testverfahren zur Ermittlung des IQs. Dafür sollten sich Eltern an geschulte Psychologinnen und Psychologen wenden, die sich auf dieses Fachgebiet spezialisiert haben und die Ergebnisse sinnvoll interpretieren können. Durch deren Fachwissen bieten sie geeignete Empfehlungen für weitere Schritte an.

Nehmen wir an ein 10jähriges Kind die Mitteilung: „Du bist hochbegabt.“ Doch was bedeutet das konkret? Je jünger das Kind ist, desto mehr denkt es, dass die gleichaltrigen Kinder genauso sind wie es selbst, genauso gut denken können und genauso schnell Dinge verstehen. Also bleibt die Frage im Raum: „In welchen Situationen nimmst du, Michel oder Hanna, deine Begabung wahr?“ „Wo spürst du den Unterschied zu den anderen Kindern?“

So antwortet Michel auf die Frage, dass er sich schon immer die Rechtschreibung neuer Wörter sofort gemerkt hat und oft überrascht war, wenn seine Klassenkameraden diese wieder vergessen hatten. Er hatte schon in jungen Jahren eine große Lesekompetenz und hatte ständig Bücher zur Hand. Die neuen Wörter fügte er mühelos seinem Wortschatz hinzu und prägte sich gleichzeitig deren Rechtschreibung ein.

Hanna spricht von ihren ersten Begegnungen in der Mathematik. Die Schulaufgaben waren für sie immer zu leicht. Die Hausaufgaben, die lediglich aus Wiederholungen des Unterrichtsstoffes bestanden, waren für sie, erschöpfend langweilig und in ihren Augen völlig überflüssig. Von der ersten Klasse an gab es täglich Streitigkeiten mit ihrer Mutter über das Fertigstellen der Hausaufgaben. Um der Langenweile zu entkommen, begann Hanna bereits in der zweiten Klasse, eigene Aufgaben zu entwickeln und zu lösen. Das Heft mit ihren speziellen Aufgaben hütete sie wie ein Geheimnis. Erst als die Ergebnisse des IQ-Tests vorlagen, begann sie, darüber zu reden.

Sarah, meine erste Klientin, die ich als Studentin der Mathematik kennenlernte, berichtete, dass sie in der Vorschule diese komischen Zahlen für sich entdeckt hatte. Niemand auf ihrer Gruppe wollte mit ihr darüber sprechen, dass sie die Primzahlen entdeckt hatte. Ihre mathematische Begabung wurde eher zufällig entdeckt. In einem benachbarten Klassenzimmer der höheren Klasse (zwei Jahrgänge über der ihrer) standen Aufgaben an der Tafel. Sie war neugierig, schlich sind in den Klassenraum und löste die Aufgaben mit großer Leichtigkeit und Freude. Dabei wurde sie von einer Lehrerin erwischt. Diese Lehrerin verfügte über Wissen zum Thema Hochbegabung und bestellte die Mutter zu einem Gespräch in die Schule, um über die mathematische Begabung ihrer Tochter zu sprechen und Fördermöglichkeiten aufzuzeigen. Sarah hatte das Glück auf eine spezielle Schule für hochbegabte Kinder umgeschult zu werden und erhielt dort die Möglichkeit frühzeitig ihr Potential zu nutzen.

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Kommunikation über die Testergebnisse

Eltern entscheiden, ob und wann sie ihren Kindern die Ergebnisse mitteilen. Es ist ein heikles Thema. Ich habe bereits Eltern beraten, deren Kinder im Grundschulalter getestet wurden, die in der Grundschule eine Klasse übersprungen hatten und von ihren Eltern oft jahrelang nicht informiert worden waren. Genauso problematisch ist es, wenn ein Kind vor der Klasse sagt: „Ich bin hochbegabt.“ Hochbegabung polarisiert häufig, fördert Konkurrenzdenken und kann Neid sowie Bewunderung hervorrufen. Jede Art von Reaktion ist möglich.

Was passiert, wenn eine vorliegende Hochbegabung nicht erkannt wird? Im Internet finden sich zahlreiche Berichte von späterkannten Hochbegabten. Schon ein 16jähriger Schüler kann unter Umständen große Schulproblemen erfahren, Depression und Angststörungen entwickeln und vorzeitig von der Schule abbrechen. Nicht erkannte Hochbegabte finden im günstigsten Fall ihren Weg, denken jedoch nicht viel darüber nach. Doch viele Kinder und Jugendliche haben sich stets anders gefühlt als ihre Klassenkameraden und wussten nicht, warum. Die sich oft unverstanden fühlten und haben sich während der gesamten Schulzeit gelangweilt, ohne eine Erklärung dafür zu finden.

Meine eigene Hochbegabung wurde erst in meinen 40ern entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich bereits eine Weile als Coach für hochbegabten Schülerinnen und Schülern. Die Anregung einen IQ-Test zu machen, kam von den Müttern, deren Kinder bei mir im Coaching saßen.

Fazit

Ein Teil der spät erkannten erwachsenen Hochbegabten hadert mit ihrem Leben und hätte mit dem Wissen um ihr Potential ganz andere Entscheidungen getroffen – in beruflichem und privatem Sinne.

Wohin führen diese Fact-Listen und die vielen kurz erzählten Geschichten aus der Praxis, die sie gelesen haben? Sie bringen uns zu den Menschen, zu den individuellen Lebenslagen und zu den außergewöhnlichen Gesprächen, die ich über Jahre mit diesen Kindern, Jugendlichen und Eltern führen durfte.

Je mehr ich das Phänomen Hochbegabung betrachte, desto öfters verschwimmen die klaren Definitionen. Mein Fazit nach über 20 Jahren Coaching für hochbegabten Kinder, Jugendliche und deren Familie ist: Hochbegabt ist nicht gleich hochbegabt! Die Kinder und Jugendlichen sind nicht miteinander vergleichbar.

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