Underachiever – Hochbegabte Minderleister

Underachiever – Hochbegabte Minderleister

Denken wir an Hochbegabung, denken wir an Genialität und Brillanz – so das Klischee. Zu den Mythen über hochbegabte Kinder gehört die Vorstellung, ihnen fiele alles zu, sie müssten nicht lernen oder sich anstrengen. Doch dieser Mythos wird widerlegt durch den hohen Anteil an Underachievern – Minderleistern unter den hochbegabten Kindern und Jugendlichen. Die Literaturlage zu dieser Frage ist uneinheitlich.

Das Marburger Hochbegabtenprojekt unter der Leitung von Prof. Rost identifizierte ca. 12 % der Hochbegabten als Underachiever. Eine wichtige Quelle, die Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V. (DGhK e.V.), geht sogar von mehr als einem Drittel der jeweiligen Alterskohorte aus. Der Psychologe Vom Scheidt geht sogar so weit, dass er von einem Anteil von ca. 70 % spricht. Er unterteilt die Gruppe der Underachiever in echte Underachiever und in gebremste Latente, die ihre Begabungen niemals optimal nutzen konnten, und stellt die Hypothese auf, dass etwa 66 % der Hochbegabten ihr Potenzial nicht selbstwirksam verwirklichen können. Diese Gruppe umfasst auch viele nicht erkannte Hochbegabte unter den Erwachsenen. Einig sind sich aber beide Seiten darin, dass diese Personengruppe unter den Hochbegabten ihr Potenzial nicht entfalten kann.

Was ist ein Underachiever?

Per Definition ist ein Underachiever eine Schülerin oder ein Schüler, die im Rahmen der Diagnostik im IQ-Test ein Ergebnis von mindestens 130 Punkten erzielt haben, aber in der Schule leistungsbezogen nicht zum oberen Drittel der Klasse gehören. Dies betrifft ebenso Schülerinnen und Schüler, die trotz ihrer intellektuellen Hochbegabung keine Empfehlung für das Gymnasium erhalten haben und sich auf Gemeinschaftsschulen oder Stadtteilschulen befinden. Es betrifft auch Schülerinnen und Schüler, deren Hochbegabung durch Probleme wie Lese-Rechtschreibschwäche, ADHS oder Dyskalkulie überdeckt ist und deren Kompetenzen im Kontext von Schule falsch eingeschätzt werden.

Aber es betrifft auch hochbegabte Kinder und Jugendliche mit extremer Schüchternheit, die sich nicht trauen, vor der Klasse zu sprechen oder sich schlecht an Gruppenarbeiten beteiligen können. Dazu gehören auch die hochsensiblen Kinder, denen es bereits in der Kita nicht gut ging und die sich oft über Hektik oder Lärm beschwert haben. Augenfällig liegt dann der Fokus auf dem jeweiligen Problem, und die eventuell vorhandene Hochbegabung wird übersehen.

Symptome von Underachievement

Vielfach wurde das Underachievement früher fast ausschließlich auf die schulische Unterforderung und die damit einhergehende Langeweile hochbegabter Schülerinnen und Schüler zurückgeführt. Doch bei genauer Betrachtung stellt sich das Phänomen komplexer dar. In der Praxis konnten eine Reihe von wiederkehrenden Verhaltensweisen und Auffälligkeiten im Unterricht beobachtet werden:

  • Mangelnde Rechtschreibung, unleserliche Schrift und Schreibunlust.
  • Geringe Lernmotivation.
  • Fehlende Lern- und Arbeitstechniken.
  • Mangel an Arbeitsorganisation.
  • Anstrengungs- und Leistungsvermeidung bis hin zur Weigerung, sich am Unterricht in irgendeiner Form zu beteiligen.
  • Schwierigkeiten mit Routineaufgaben wie Hausaufgaben und anderen Fleißaufgaben.
  • Ständiges Hinterfragen der Autorität der Lehrkräfte.
  • Lautstarke Äußerungen von Langeweile.
  • Das Suchen nach alternativen Beschäftigungen im Unterricht, was den Unterricht stört.

Entwicklungsverlauf

Interessant ist, dass fast alle Kinder und Jugendlichen nicht mit Schulbeginn zu Underachievern werden, sondern sich eine bestimmte Entwicklung abzeichnet. Sie freuen sich genauso wie andere Kinder darauf, endlich Schulkind zu werden, und auf das Lernen und die nächste wichtige Phase in ihrem Leben. Leider konnte Mimi schon vor dem Eintritt in die Schule lesen, und nach dem ersten Schultag wollte sie erst wieder hingehen, wenn die anderen Kinder auch lesen können. So entwickelte sie im Laufe des Schuljahres eine Schulunlust, wurde unzufrieden und zuhause aufsässig. In der zweiten Klasse wollte sie keine Bücher mehr lesen, weil Lesen doof sei. Erst als sie am Ende der 2. Klasse in die 4. Klasse springen durfte, wurde sie wieder zufriedener.

Die Grundschulzeit

Grundschülerinnen und Grundschüler können auch zu Underachievern werden, wenn ihre weit über den Unterrichtsstoff hinausgehenden Fragen immer wieder abgeblockt werden. Dabei verlieren sie nach und nach das Interesse am Schulstoff und im schlimmsten Fall vegetieren sie in einem Wach-Schlaf-Zustand mit offenen Augen im Unterricht vor sich hin. Felix erhielt von seiner Grundschullehrerin gesagt, dass er sich bitte nicht mehr melden solle, da er doch alle Antworten wüsste und die anderen Kinder auch mal drankommen müssten. Wenn er es gar nicht aushielt, rief er die Antworten einfach in den Klassenraum und wurde dafür ermahnt. Schnell bekam er die Rolle des Störenfrieds zugewiesen. Dessen Eltern bekamen regelmäßig Anrufe aus der Schule, um erzieherisch Einfluss auf ihren Sohn zu nehmen.

Es gibt aber auch Schülerinnen und Schüler, die sich nur für ein oder zwei Fächer interessieren und die anderen Fächer und deren Inhalte als überflüssig empfinden oder überhaupt kein Verständnis dafür aufbringen können. Das spiegelt sich dann im Zeugnis wider.

Ein Beispiel ist Jan (8 Jahre), der bereits einen längeren Kurs für biologieinteressierte Kinder besuchte und inzwischen ein so profundes Wissen hatte, dass er mir berichtete, dass seine Lehrerin etwas nicht richtig dargestellt hatte. Er fühlte sich gezwungen, es richtigzustellen. Dies führte zu einem Streit mit seiner Klassenlehrerin, die es unmöglich fand, von ihm verbessert zu werden. Im Nachklang konnte er sie nicht mehr ernst nehmen. Ob es nun an ihrer mangelnden Fehlertoleranz lag oder seiner Vorstellung, die Lehrerin müsse alles wissen, ließ sich nicht mehr ermitteln.

Gerade die Kinder im Grundschulalter sind wie Wissensstaubsauger. Wenn sie ihr Interessengebiet gefunden haben, nehmen sie die Inhalte mit Leichtigkeit auf und sprechen ausführlich über ihre Lernerfolge. Aber niemals würden sie diesen Prozess, der dabei abläuft, als Lernen bezeichnen. Sie können also schon kleine Experten auf ihrem Gebiet sein und gleichzeitig im Kontext von Schule als Underachiever gelten.

Persönlichkeitsmerkmale hochbegabter Underachiever

Auf der Persönlichkeitsseite haben wir oft mit hochsensiblen Kindern und Jugendlichen zu tun. Oft konnte ich beobachten, dass sie über ein negatives Selbstkonzept verfügen, emotional instabil wirken und ihre Gefühle wie Ärger und Wut schlecht oder gar nicht regulieren können. Die vorhandene Tendenz zur Anstrengungsvermeidung führt zu einer Ansammlung negativer Erfahrungen und Frustration. Gleichzeitig können sie bei schwierigen Fragestellungen im Unterricht plötzlich sehr lebhaft werden und mit ihren Wortbeiträgen das Lehrpersonal und die Klasse beeindrucken. Diese kurzen leuchtenden Momente werden jedoch von den vielfältigen Negativerfahrungen überschattet. Ihre Antriebsschwäche und Misserfolgserlebnisse geben ihnen das Gefühl, Opfer der Umstände zu sein und wenig Einfluss auf ihre Lebensgestaltung zu haben. Der Umgang mit den Rückschlägen trifft oft auf die sensible, selbstkritische Seite und führt dazu, dass sich hochbegabte Kinder und Jugendliche in einer negativen Feedbackschleife verfangen. Schreiben sie einmal eine gute Arbeit, basiert ihre Interpretation oft auf Aussagen wie: „Die Arbeit war zu leicht.“ Oder: „Da hab ich wohl Glück gehabt.“

Hochbegabte Underachiever in der Pubertät

Wie bereits erwähnt, startet ein Kind nicht generell in der Grundschule als Underachiever. Viele Geschichten zeigen einen bestimmten Verlauf. In der Grundschule hat sich die Schülerin oder der Schüler zunächst gut geschlagen und eine Gymnasialempfehlung erhalten und ist nun in der 6. oder 7. Klasse. Parallel setzt die beginnende Pubertät ein. Eine häufige Aussage, die Eltern immer wieder vorbringen, lautet: „Mein Kind kann nicht lernen.“ Damit meinen die Eltern, dass ihrem Kind in der Grundschule das Wissen zugeflogen ist, es wenig bis kaum Wiederholungen benötigte und sich die Inhalte gut merken konnte. Die Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder bereits in der Grundschule Lernstrategien erlernt hätten.

Im Gymnasium werden dann häufig die Noten schlechter, ein Abwärtstrend zeichnet sich ab, und manchmal zeigt sich eine Schulunlust. Hochbegabte Kinder, die oft durch einen starken Willen gekennzeichnet sind, machen es den Eltern nun auch schwieriger im Umgang. Streit über Handy- und Internetzeit, Streit über noch zu machende Hausaufgaben gehören für viele Eltern zum Alltag. Die Anforderungen der Schule steigen parallel dazu, neue Fächer und komplexere Inhalte kommen hinzu. Eigentlich großartig, wenn es in der Grundschulzeit langweilig war. Doch die Underachiever sind mit minimalem Einsatz durch die Grundschulzeit gekommen und nun fehlt ihnen wirklich das Handwerkszeug.

Das ist der Zeitpunkt, an dem Eltern mich mit ihren Kindern aufsuchen. In einem ausführlichen Erstgespräch mit der gesamten Familie versuche ich herauszubekommen, welches Anliegen die Familie hat und welcher Auftrag für das Coaching sich daraus ergibt. An erster Stelle steht oft die Verbesserung der schulischen Leistungen. Dabei geht es um Lernstrategien, Motivation und Selbstdisziplin. Es findet eine Ursachenforschung statt.

Nehmen wir einen hochbegabten Jungen, Phillip (13 Jahre) aus der 7. Klasse. Er glaubt nicht, dass er hochbegabt ist und hat kein Interesse daran, längere Zeit mit dem Lernen der Vokabeln in Latein und Englisch zu verbringen. Er liest die Vokabeln zweimal durch und denkt, das müsse reichen. In der 5. Klasse konnte er so noch die eine oder andere gute Note im Vokabeltest schreiben. Nun wird es auch durch die zweite Fremdsprache schwierig. Gleichzeitig beginnt der Umbau des Gehirns im Rahmen der Pubertät und fordert ebenfalls seinen Zoll.

Im Coaching haben wir uns ausführlich mit der Zeitspanne, die er dem Lernen der Vokabeln widmete, und mit den Themen Vergessen und Erinnern beschäftigt. Dabei wurde deutlich, dass er eine schnelle Merkfähigkeit besitzt, aber nach kurzer Zeit einen großen Teil der Vokabeln wieder vergessen hatte. Wir stellten gemeinsam ein Lernkonzept auf, das ihm half, kontinuierlicher zu arbeiten. Wir arbeiteten dabei mit dem Begriff der Wissenstiefe.

Ein weiteres Beispiel ist Nora (14 Jahre). Ihre Schulnoten bewegten sich seit dem Wechsel aufs Gymnasium im 3er-Bereich. In jedem Zeugnis stand, sie solle sich mündlich mehr im Unterricht einbringen. In den schriftlichen Arbeiten erzielte sie regelmäßig Einsen und Zweien, doch der Mangel an Beteiligung im Unterricht zog ihre Note nach unten. Hier lautete der Auftrag, mutiger zu werden und die mündlichen Noten zu verbessern. Sie bekam als erstes die Beobachtungsaufgabe, wie viele Fragen im Unterricht sie richtig beantworten könnte. Sie kam auf 90 % und berichtete, dass sie manchmal ihrer Freundin die richtige Antwort ins Ohr raunte.

Wir gingen in kleinen Schritten vor und arbeiteten an ihrer Angst, möglicherweise eine falsche Antwort zu geben. Zu ihrer Sensibilität kam noch ein gewisser Perfektionismus hinzu. Außerdem bat ich sie, die Lehrkräfte um kleine Extraaufgaben zu bitten, die in die mündliche Note einfließen könnten. Das Fazit war, dass sie mutiger wurde, sich öfters überwand und eine Fehlertoleranz entwickelte, was langfristig zu einer Verbesserung ihrer mündlichen Noten führte.

Fazit

Zum Schluss möchte ich noch von einer Erfolgsgeschichte erzählen über einen hochbegabten Schüler, den ich über seine gesamte Schulzeit begleiten durfte. In der Erstberatung der Familie ging es darum, ob ein IQ-Test sinnvoll sei. Finn wurde diagnostiziert und hatte einen IQ-Wert weit über 130 Punkten. Erfolgserlebnisse in der Schule blieben Finn jedoch die ganzen 12 Jahre verwehrt. Die Lehrkräfte sahen nicht, dass er mit seiner nicht vorhandenen Arbeitshaltung das Gymnasium bis zum Ende schaffen würde.

Die Versetzung in die Oberstufe war ungewiss. So kam er in der 10. Klasse wieder zu mir. Es sollte dabei nicht unerwähnt bleiben, dass er seit der 6. Klasse keine Hausaufgaben mehr erledigt hatte. Er bekam das Angebot, die Hausaufgaben an einen anderen Ort, in meine Küche, zu verlegen. Er konnte selbst entscheiden, ob und wann er kommen wollte. Er kam regelmäßig ein bis zweimal die Woche und schaffte den Übergang in die Oberstufe.

Vor dem Abitur suchte er erneut meine Unterstützung. In der letzten Prüfung benötigte er 2 Punkte, um das Abitur zu bestehen. Dies gelang ihm, obwohl er nach eigener Aussage auch hätte durchfallen können. Er hatte Schule gründlich satt und begann eine Ausbildung, die er demnächst abschließen wird. Seine Noten in der Berufsschule bewegen sich überraschenderweise im 1er-Bereich. Darüber hinaus hat er bereits Ideen für ein eigenes Unternehmen entwickelt, da er die Ausbildung ein wenig zu langweilig fand. Es scheint, als habe er mit dem Beginn seiner Ausbildung – möglicherweise mit dem Ende der Pubertät – eine neuartige persönliche Einstellung zum Lernen entwickelt.

Im Coaching von Underachievern können wir gemeinsam Fortschritte erzielen und den Teufelskreis des Misserfolgs durchbrechen. Es ist eine Tatsache, dass Erfolge neue Erfolge erzeugen – während Misserfolge oft weitere Misserfolge nach sich ziehen. Es ist wichtig zu erkennen, dass schulische Misserfolge keinen Hinweis darauf geben, wie sich die berufliche Zukunft gestalten wird.

In über 20 Jahren Beratungstätigkeit für hochbegabte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene konnte ich gut beobachten, dass schulische Misserfolge keinen Hinweis darauf geben, wie sich die berufliche Zukunft entwickeln wird und welche Wege begangen werden können.

Underachiever – Hochbegabte Minderleister

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