Verhaltensauffälligkeiten bei hochbegabten Kindern

Verhaltensauffälligkeiten bei hochbegabten Kindern

Begabte und hochbegabte Kinder können bei anhaltender schulischer Unterforderung Lernstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Depressionen und psychosomatische Symptome wie Kopfschmerzen und Bauchschmerzen entwickeln.

Wann wird Hochbegabung zum Problem?

Wenn wir im Zusammenhang mit Hochbegabung von Verhaltensauffälligkeiten sprechen, ist die Perspektive oft stark defizitorientiert. Die Hochbegabung selbst ist nicht das Problem, sondern die Verhaltensauffälligkeiten. Aber was gilt eigentlich als verhaltensauffällig? Wer entscheidet das?

Ein Blick auf diese Fragen lohnt sich. Systemisch betrachtet gibt es immer einen guten Grund für das Verhalten des Kindes – auch wenn dieser Grund nicht immer sofort ersichtlich ist.

Als Verhaltensauffälligkeit wird definiert, wenn ein Kind sich in der Gruppe gleichaltriger Kinder anders verhält, als erwartet wird, also aus dem Rahmen fällt. Ein Kind, das sich zurückzieht und mit den anderen Kindern nicht reden oder spielen möchte, ist genauso betroffen wie ein Kind, das Radau macht, Streit anfängt und sich an keine Regeln hält. Als „Rahmen“ wird dabei immer die Gruppe der Gleichaltrigen betrachtet – nicht die Gruppe der Hochbegabten.

Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter

Im Kindergartenalter konnte ich bei hochbegabten Kindern folgende Verhaltensweisen beobachten:

  • Kinder, die sich weigerten, an bestimmten Spielen teilzunehmen,
  • Kinder, denen es im Kindergarten zu laut war und die sich zurückzogen,
  • Kinder, die regelmäßig Wutanfälle bekamen,
  • Kinder, die verstärkt den Kontakt zu älteren Kindern suchten.

Ein Beispiel: Sophia, ein hochbegabtes Mädchen, berichtete von ihrer Kita-Zeit. Sie hatte sich das Lesen selbst beigebracht und saß am liebsten lesend unter einem Tisch. Leider wurde sie dort täglich gestört. Sophia wurde regelmäßig aufgefordert, sich an Gruppenaktivitäten zu beteiligen, die sie geistlos fand und die ihr keine Freude bereiteten. Die Mutter beschrieb diese Zeit als ausgesprochen schwierig. Sophia kam erschöpft und frustriert nach Hause und ließ ihrem Ärger freien Lauf – es gab häufig Wutanfälle wegen Kleinigkeiten. Noch schlimmer wurde es, als die älteren Kinder zur Schule oder Vorschule wechselten. Die Eltern wurden sich erst bewusst, wie sehr sich Sophia im Kindergarten langweilte, als sie die Hochbegabung ihrer Tochter erkannten. Die Diagnose Hochbegabung erhielten sie durch einen Bekannten, der auf den überdurchschnittlichen Wortschatz ihrer Tochter hinwies.

Während Sophia ihren Frust nicht an anderen Kindern ausließ, berichtete eine andere Mutter von ihrem Sohn Finn. Er beklagte sich wiederholt über Langeweile, verweigerte sich den Angeboten der Erzieherinnen und begann, Blödsinn zu machen, andere Kinder zu provozieren und zu ärgern. Auf Empfehlung der Kitaleiterin suchte die Familie eine kinderpsychiatrische Praxis auf, wo eine Diagnostik erfolgte. Ausgangspunkt war der Verdacht auf ADHS. Die umfassende Diagnostik beinhaltete auch einen IQ-Test, bei dem beide Kinder Werte über 130 erreichten. Diese Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Kinder auf intellektuelle Unterforderung reagieren können.

Verhaltensauffälligkeiten

Verhaltensauffälligkeiten hochbegabter Kinder in der Grundschulzeit

In der Grundschulzeit starten alle Kinder begeistert in die erste Klasse – endlich Schulkind sein und viele neue Dinge lernen. Doch nach einigen Wochen zeigen sich häufig folgende Probleme: Wutanfälle, unruhiges Verhalten, ständiges Aufstehen und Herumlaufen im Klassenraum, Zwischenrufe, Gespräche mit den Tischnachbarn, Verweigerung, mit den Aufgaben zu beginnen, Störungen des Unterrichts und große Unlust, Wiederholungen oder Fleißaufgaben zu erledigen. Gleichzeitig treten die ersten psychosomatischen Beschwerden auf: Bauchschmerzen, Übelkeit oder starke Kopfschmerzen führen dazu, dass Eltern ihre Kinder frühzeitig abholen müssen.

Hochbegabte Kinder haben oft ein hohes Lerntempo und eine schnelle Denkgeschwindigkeit. Das Schreiben einzelner Buchstaben fühlt sich dagegen langsam und mühsam an – wie eine Schnecke auf dem Weg zum Marathonlauf. Die ständige Wiederholung von Inhalten und Aufgaben nervt diese Kinder. Sie müssen sich dem Tempo der Klasse anpassen und haben selten die Chance, ihr Können zu zeigen. Manchmal haben sie sogar einen Wissensvorsprung, so dass sie im Unterricht zu wenig Neues erfahren. Wenn Ihr Kind wiederholt über Langeweile klagt, sollten Sie als Eltern genau hinhören. Zwar gibt es für viele Schülerinnen und Schüler Phasen der Langeweile, doch wenn Ihr Kind immer wieder frustriert und freudlos aus der Schule kommt, sollten Sie aufmerksam sein.

Melanie, ein Mädchen, das sich das Lesen selbst beigebracht hat, sitzt nun in einer Klasse mit Kindern, die noch lesen lernen müssen. Nach dem ersten Schultag sagte sie: „Da gehe ich erst wieder hin, wenn die anderen auch lesen können.“

Mädchen und Jungen – unterschiedliche Ausdrucksformen von Frustration

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Mädchen und Jungen ihre Frustration sehr unterschiedlich ausdrücken. Mädchen ziehen sich häufig zurück, versuchen sich anzupassen und leiden öfter an psychosomatischen Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen. Sie neigen zu autoaggressivem Verhalten, zum Beispiel Nägelkauen. Besonders wenn eine hohe Sensibilität hinzukommt, verstummen Mädchen oft im Unterricht.

Jungen hingegen entwickeln sich eher zu Störenfrieden. Viele dieser Kinder sind noch nicht als hochbegabt erkannt worden. Eltern wird empfohlen, zu prüfen, ob die verträumte Pia ADS hat oder der wilde Ole an ADHS leidet. Auch Autismus wird häufig als Verdachtsdiagnose genannt. Überdurchschnittlich oft landen Jungen in der Diagnostik. Eine Mutter berichtete, dass die Psychologin, die den IQ-Test bei ihrem Sohn durchgeführt hatte, vorschlug, auch die jüngere Schwester zu testen. So kam es zum Zufallsbefund: Die Tochter erreichte bei der Testung ein noch höheres Ergebnis als ihr Bruder. Niemand in der Familie hätte auf Hochbegabung bei beiden Kindern getippt.

Hochbegabte Jugendliche in der Pubertät

Ein Schwerpunkt meiner Arbeit liegt bei hochbegabten Jugendlichen in der Pubertät. Über die Hälfte der Mädchen, die zu mir kommen, waren bereits in Psychotherapie oder besuchen parallel eine solche. Die häufigsten Diagnosen sind Depressionen und Ängste. Hochbegabte Mädchen werden oft nicht erkannt und seltener einem IQ-Test unterzogen. Sie langweilen sich, fühlen sich in der Schule nicht gesehen, ziehen sich zurück oder versuchen, sich stark anzupassen. Trotz psychischer Probleme gehören sie leistungsmäßig meist zum oberen Drittel der Klasse. Wird die Hochbegabung im Rahmen der Psychotherapie erkannt, beginnen sie oft, sich besser zu verstehen. Für einige Mädchen und Jungen hat das Überspringen einer Klasse geholfen, sich in der Schule gefordert zu fühlen. Außerschulische, herausfordernde Hobbys dienen vielen hochbegabten Kindern als Ausgleich.

Männliche hochbegabte Jugendliche kommen ins Coaching, um an Schulproblemen zu arbeiten, ihre Leistungen zu verbessern und Lernstrategien sowie Arbeitsorganisation zu entwickeln. Wenn sie bereits Psychotherapieerfahrung haben, dann meist im Zusammenhang mit Mobbing. Das Anderssein durch die Hochbegabung erhöht das Risiko, Opfer von Mobbing zu werden – leider passiert das viel zu oft.

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Hochbegabung und ADHS

Es gibt eine Schnittmenge zwischen Hochbegabung und ADS/ADHS. Ein hochbegabter Junge, der als Störenfried die Klasse unterhält, kann dies aus Langeweile tun – oder es liegt tatsächlich ADHS vor. Die Lehrkraft informiert die Eltern über den Verdacht und bittet sie zu einem Gespräch. Zuhause erleben die Eltern ihr Kind oft als ausgeglichen und altersgerecht. Um Klarheit zu gewinnen, ist eine ausführliche psychiatrische Diagnostik nötig, bei der auch ein IQ-Test durchgeführt werden kann.

Es gibt drei mögliche Ergebnisse:

  • Das Kind ist hochbegabt ohne ADHS und zeigt Verhaltensauffälligkeiten aufgrund von Langeweile.
  • Das Kind hat ADHS ohne Hochbegabung.
  • Das Kind ist hochbegabt und hat ADHS.

In allen Fällen besteht akuter Handlungsbedarf. Eltern können gemeinsam mit dem Kind über unterstützende Maßnahmen sprechen oder – bei ADS/ADHS – eine medikamentöse Behandlung in Erwägung ziehen.

Hochbegabung und Hochsensibilität

Viele hochbegabte Kinder und Jugendliche sind auch hochsensibel. Diese Sensibilität kann sich unterschiedlich äußern – zum Beispiel durch eine besondere Empfindlichkeit eines Sinnes (z. B. Geruchssinn oder Lärmempfindlichkeit) oder im sozialen Miteinander. Hochsensible Kinder nehmen jede Stimmung wahr. So weinte Lisa im Kindergarten jedes Mal, wenn sich ein anderes Kind verletzt hatte, und beschäftigte sich oft länger mit dem Kummer als das verletzte Kind selbst.

Hochsensibilität geht häufig mit Reizoffenheit einher. Hochsensible Kinder müssen sich oft aus Selbstschutz aus überfordernden Situationen zurückziehen, da sie zu Reizüberflutung neigen. Sie nehmen alle Stimmungen auf und fühlen sich manchmal verantwortlich für das Wohlergehen anderer, was zu emotionaler Überforderung führen kann.

Es gibt auch Überschneidungen zwischen Hochsensibilität, Hochbegabung und Autismus, doch dieses Thema würde den Rahmen dieses Textes sprengen.

Fazit

Noch einmal: Nicht jedes hochbegabte Kind entwickelt Verhaltensauffälligkeiten. Im besten Fall wird die Hochbegabung früh erkannt und angemessen gefördert.

Nicht erkannte oder spät erkannte hochbegabte Erwachsene berichten oft, dass sie mit dem Wissen um ihre Hochbegabung vieles anders betrachtet hätten. Schulprobleme hätten sich relativiert, und das Gefühl des Andersseins und des „Nie-richtig-Dazugehörens“ wäre verständlicher gewesen.

Ob ein Kind ADHS hat, hochsensibel oder hochbegabt ist – allen gemeinsam ist der Wunsch, in ihren Eigenschaften und Fähigkeiten von der Umwelt angemessen wahrgenommen zu werden. Der Anpassungsdruck in der Schule ist enorm, und schnell wird ein „schwarzer Peter“ zwischen Eltern und Schule hin- und hergeschoben. Dabei wird oft von Erziehungsfehlern gesprochen. Doch Erziehung findet nicht nur in der Familie statt, sondern auch in Schule und Peergroup.

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